Über die Recherche

gesendet am 23.05.2019 auf rbb Kultur in der Reihe „Mein Europa“

Es ist 2015 und ich bin in Melilla, eine der beiden spanischen Exklaven, die an Marokko und das Mittelmeer grenzen. 85000 Menschen leben hier auf 13 km². Das Gebirge, der Monte Gourougou, erhebt sich hinter Melilla. An manchem Morgen hängt dort eine Wolke fest. In der Nacht leuchtet die Stadt, und da, wo es dunkel ist, ist das Gebirge. Dort campieren ungefähr 30000 Menschen aus den Subsahara-Regionen, die auf ihre Chance warten, den Zaun zu überwinden, um nach Europa zu gelangen.

Ich hole meinen roten Reisepass aus dem Rucksack und halte ihn bereit. Ich weiß, dass ich ihn nur hochhalten muss, ich komme durch. Ich arbeite an einem Langgedicht über die Fluchtbewegungen Richtung Europa, ich bewege mich im Material, ich passiere die Grenze täglich. Vor dem Sperrzaun drängeln sich vielleicht hundert Menschen. Als ich näher herantrete, schlägt ein Polizist mit seinem Schlagstock auf eine alte, gebückte Frau ein, die auf einem Skateboard zwei große Stoffballen transportiert. Die Menge weicht zurück. Ich halte den Pass hoch, schiebe mich durch die Menge. Der Polizist zieht mich zu sich, klopft mir auf die Schulter, sagt „¡Hola!“, und schiebt mich weiter. Ich verlasse Spanien. Ich drehe mich um, die Menge ist wieder an dem Gitter. Das Handy piept „Willkommen in Marokko“, die Uhrzeit wurde automatisch um eine Stunde zurückgestellt. Ich halte meinen Pass in der Hand. Ich gehe weiter. Ich komme aus Deutschland. Ich kann mir die Uhrzeit aussuchen. Fünfzig Meter noch, rechts und links blaulackierte Zäune, Stacheldraht, Militär, Polizei, Schleuser, Schlepper, Schmuggler. Immer wieder setzen Soldaten ihre Schlagstöcke ein.

Vor dem Kontrollhäuschen hat sich eine lange Wartschlange gebildet. Ein alter, zahnloser Mann mit einer halb herunter gerauchten Zigarette drückt mir einen Zettel in die Hand, auf den ich die Angaben aus meinem Pass eintrage. Ich gebe ihm etwas Geld. Der rote Pass, ich komme überall hin. Nach einer Stunde in der Warteschlange reiche ich den Zettel durch das Fenster der Kabine, der Mann stempelt den Pass. Ich höre Schreie. Ein Junge, so alt wie mein Sohn, ist durch die erste Kontrolle geschlüpft und rennt Richtung Spanien, zwei Soldaten hinter ihm her. Tempo, denke ich, lauf! Noch dreißig Meter, zwanzig. Die Soldaten holen auf. Sie treten ihm die Beine weg. Er überschlägt sich. Sie reißen ihn hoch und führen ihn zurück nach Marokko. Ich stehe erstarrt und brauche eine Weile, um mich wieder zu sammeln. Ich nehme meinen roten Pass, halte ihn hoch und gehe auf den Kontrollpunkt zu. 

Recherchebericht und Fotos

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